Vaterzeit

17. Oktober 2009

VaterzeitNun ist sie herum, meine Elternzeit. Von den ersten sechs Lebensmonaten meiner kleinen Tochter war ich viereinhalb zuhause. Ein großartiger gemeinsamer Babysommer. Mit dem Herbsteinbruch in Berlin geht er zu Ende und  ich arbeite wieder (an neuer Stelle). Um die Tochter kümmert sich nun unter der Woche tagsüber meine Frau allein. Wir haben uns vorgenommen, dass sie mir jeden Vormittag einen Webcam-Schnappschuss ins Büro mailt.

Gemeinsam Elternzeit nehmen zu können, das war uns die ganze Zeit über bewusst, ist ein ziemlicher Luxus. Der Zeitraum, für den insgesamt Elterngeld zur Verfügung steht, wird dadurch kürzer – wenn meine Frau noch etwas länger zuhause bleiben will, muss bald schon ein Einkommen reichen. Wir haben reiflich überlegt, ob wir uns das leisten wollen – und heute bin ich sehr froh darüber.

Natürlich muss so ein Baby in seinen ersten Lebensmonaten nicht beide Eltern in Vollzeit um sich haben. Aber: doch, es hat etwas davon. Wir konnten uns in Ruhe aneinander gewöhnen und daran, nun Familie zu sein. Wir hatten zunächst einmal keinen Streß damit, die Anforderungen des Berufs und das völlig neue Leben mit Kind unter einen Hut zu bringen. Wir konnten das neue Leben ganz gelassen üben, ausprobieren und genießen. Weder meine Frau noch ich mussten IMMER für das Kind da sein, sie und ich hatten Luft für unsere eigenen Bedürfnisse. Sie konnte mal in Ruhe etwas Sport machen gehen, ich mich um meine berufliche Neuorientierung kümmern. Wir beide zusammen hatten Zeit, auch mal einen Werktag zu dritt am Badesee zu verbringen oder in Ruhe die frisch gebackenen Großeltern zu besuchen.

Klingt nach nichts Besonderem? Mag sein. Aber es hat jene entspannte Atmosphäre daheim hergestellt, in der auch unser Baby sich anscheinend von Beginn an wohl gefühlt hat. Sich ohne Probleme stillen ließ, von Beginn an ein ausgeglichenes, fröhliches, in sich ruhendes Wesen war. Und bis zu seiner ersten Erkältung immer kerngesund.

Klar, vielleicht wäre es auch so gekommen, wenn ich gearbeitet hätte. Aber eins ist sicher: Ich wäre dann ein anderer Vater. Nicht per se ein schlechterer – aber ich hätte einige hundert Windeln, einige zig Male Toben, Schmusen und Vorsingen Rückstand. Ich wüsste nicht, wieviel Spaß PEKiP macht, wie man in der Kinderarztpraxis seine Nerven behält und welche Cafés am Prenzlauer Berg die kinderfreundlichsten sind. Ganz abgesehen vom Wissen, was welches Weinen bedeutet, wie man ein Kind in den Ergo-Carrier oder ein Tragetuch bugsiert und wie man Pickelchen auf dem Babypopo behandelt.

Auch wenn man gelegentlich noch dafür angestaunt wird: Dass sich Väter genauso wie Mütter freie Zeit für ihre Kinder nehmen, wird zunehmend selbstverständlich – und das ist auch gut so. Nicht jeder Vater wird dazu Gelegenheit haben, aber immer mehr werden es sich nicht nehmen lassen wollen. Und wenn es nur die zwei „Vätermonate“ sind, die das Elterngeldgesetz nahelegt. Ich kann es nur weiterempfehlen.

Das echte Wagnis ist es natürlich, als Vater frei zu nehmen, während die Mutter arbeiten geht. Bei uns kam es, zumindest bei diesem Kind, aus verschiedenen Gründen nicht in Frage. Freunde von mir haben es getan, und sehr gute Erfahrungen damit gemacht. Und, wie die Medienleute so sind, gleich ein Buch dazu geschrieben, dass ich wärmstens weiterempfehle: Wir Wickelprofis, erschienen bei Heyne.


Noch einmal: Thilo Sarrazin und sein Interview in Lettre International

6. Oktober 2009

Kopftuchmädchen. Foto: Resmi 17

Die Debatte um das Lettre-Interview kocht inzwischen kräftig über – und ich werde recht regelmäßig danach gefragt, was ich davon halte. Daher hier nun doch einige ausführlichere Worte, insbesondere zu jenen geäußerten Ansichten, die ich explizit nicht teile. Es sind wenige – den Großteil seines Interviews könnte ich unterschreiben – aber gravierende Differenzen.

Jenseits der Frage, ob man als Bundesbank-Vorstand ein solches Interview geben darf (ja) oder sollte (nein): Ich bin an einigen zentralen Punkten inhaltlich nicht mit Thilo Sarrazin einverstanden, bei denen sich nach meiner Beobachtung sein Denken im Laufe der Zeit radikalisiert hat. Diese Punkte haben einen gemeinsamen Nenner, das zugrunde liegende Menschenbild. Wenn man als Politiker davon ausgeht, dass der einzelne Mensch ohnehin nicht änderbar ist, dann kann man mit Politik aufhören und unter die Fatalisten gehen. Wenn man überzeugt ist, dass aus den Kindern von dummen/bildungsfernen/schlecht integrierten/sozial randständigen oder auch nur gläubig muslimischen Eltern per Definition sowieso keine nützlichen Mitglieder der deutschen Gesellschaft werden können, dann gibt man sie auf.

Ich bin kein Sozialdemokrat, aber Sozialdemokratie (wie auch das für mich prägendere christliche Menschenbild) impliziert die Überzeugung von der Möglichkeit sozialer Mobilität durch Aufklärung, Bildung, Chancengleichheit und Förderung. Empirisch festzustellen, dass dies bei weiten Teilen der Bevölkerung nicht funktioniert, ist das Eine – wer aber daraus apodiktisch die Unmöglichkeit folgert, entwertet das Engagement aller, die daran arbeiten und negiert ihre Erfolge. Wird so etwas herrschende Meinung, kann es zur self-fulfilling prophecy werden: dann verschärft dies (wie seinerzeit bei Innenminister Sarkozy) die Abgrenzungstendenzen gerade junger, männlicher Migranten noch, schürt Wut gegen den Staat und leistet womöglich einen Beitrag zu regelrechten Riots in den entsprechenden Stadtvierteln. Also – wir werden mit denen, die da sind, schon irgendwie arbeiten müssen, vor allem mit den Kindern. Denn das Problem wächst sich ja gerade nicht heraus (da ist Sarrazin widersprüchlich), die benannten Gruppen haben ja tatsächlich hohe Geburtenraten.

Was Sarrazins Auffassung zur prinzipiellen Nichtintegrationsfähigkeit kopftuchtragender Türkinnen angeht und seine ethnische Unterscheidung zwischen guten und schlechten Ausländern: Präambel, Artikel 1 und Artikel 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte oder auch Artikel 3 und 4 des Grundgesetzes halte ich für absolute, nicht hintergehbare Voraussetzungen friedlichen Zusammenlebens. Das hat nichts mit Political Correctness zu tun, das ist einfach Grundlage unserer Zivilisation. „Ich muss niemanden anerkennen, der…“? Doch, das muss er wohl – wenn nicht als Privatmann, dann jedenfalls als Repräsentant dieses Staates:  „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ Kopftuch tragen, kein Deutsch lernen, Hartz IV beziehen verletzt nicht die Rechte anderer und verstößt nicht gegen verfassungsmäßige Ordnung oder Sittengesetz. Vielleicht gegen Deine oder meine oder Thilo Sarrazins Vorstellung von einer vorbildlichen Lebensführung, aber das steht auf einem anderen Blatt.

Wie einem Deutschen in der Türkei ist es auch einem Türken in Deutschland freigestellt, wie weit er sich gesellschaftlich integrieren möchte – so lange er die Gesetze einhält. Integration ist zunächst einmal ein freiwilliger Akt – und muss es in einer offenen Gesellschaft per Definition sein. Es lässt sich also nichts erzwingen – man kann nur mit Angeboten, Anreizen und Sanktionen arbeiten. Für das Zuwanderungsrecht bedeutet das Verbot ethnischer und religiöser Diskriminierung: Ob eine Einwandererin Aufenthaltsrecht, Arbeitserlaubnis und Staatsbürgerschaft erhält, können wir von vielen Dingen abhängig machen: von ihrer Bildung, ihren Sprachkenntnissen, ihrer wirtschaftlichen Selbständigkeit, von mir aus von der Nützlichkeit ihrer spezifischen Ausbildung für unsere Volkswirtschaft. Aber nicht davon, ob sie aus der Türkei kommt oder aus Schweden, ob sie Muslima ist oder Jüdin, ob sie Kopftuch trägt oder nicht. Und das nicht (nur) aus moralischen Gründen, sondern aus wohlverstandenem Eigeninteresse.

Das sind recht grundlegende Differenzen, dennoch bin ich bei seiner Problemanalyse in weiten Teilen bei ihm. Und: Ja, er benennt Mißstände, die man diskutieren und denen man sich stellen muss, wenn der Graben zwischen der Weltsicht der politischen und journalistischen Kaste und den Ansichten der ‚Normalbürger‘ nicht immer tiefer werden soll. Darin ‚Volksverhetzung‘ sehen zu wollen, ist unsäglich.


Thilo S., Lettre International und die Zuwanderung

2. Oktober 2009

Man sollte über seine früheren Chefs ebenso wenig öffentlich sprechen wie über seine ehemaligen Freundinnen. Und deswegen werde ich hier nicht meine durchaus gemischten Gefühle bei der Lektüre seines ausführlichen (und lesenswerten) Interviews in der aktuellen Ausgabe von Lettre International und bei der Rezeption der sich anschließenden Empörungswelle und des Beifalls von falscher Seite ausbreiten.

Aber: Ich kann jedem Berlin-Interessierten nur empfehlen, sich dieses Heft zu kaufen. Es ist eine wahre Wundertüte der intellektuellen, literarischen und künstlerischen Auseinandersetzung mit der Hauptstadt und ihrer Lage. Ein Holzmedium vom feinsten, wie man es in dieser Tiefe und Breite in der Online-Welt nicht finden wird, und wie man es nur an langen Abenden auf dem Sofa angemessen rezipieren kann. Unter anderem finden sich darin die Ansichten einiger bunt ausgewählter Berliner Kreativer – bei einer davon drängt es mich, sie in diesem Zusammenhang zu zitieren. Sie stammt von Markus Müller, einem profilierten PR-Mann, der auf Kunst und Architektur spezialisiert ist. Er analysiert zunächst ganz ähnlich wie wenige Seiten später Thilo Sarrazin die Deindustrialisierung Berlins und kommt dann auf die Rolle der Zuwanderung zu sprechen:

„Heute läßt sich bereits ein unglaublicher Zustrom von Leuten beobachten, die meinen, sie stammten aus aller Welt – dabei kommen die meisten von ihnen aus Dänemark. Berlin muß verstehen, daß diese Gesellschaft auf starke Einwanderungsströme angewiesen ist. Wir brauchen eine extrem positive Haltung Fremden gegenüber, zumal das Bild des Anderen als Feind uns seit September 2001 den Krieg auch noch in das allerlangweiligste Wohnzimmer im Sauerland gebracht hat. Der einzige Punkt, in dem Berlin im Vergleich zu Paris oder Amsterdam bislang noch nicht mithalten kann, ist die Tatsache, daß Berlin immer noch viel zu homogen ist. Einfach gesagt: In Berlin gibt es zu wenige Einwohner nichteuropäischer Herkunft. Wir haben nicht die gleiche koloniale Vergangenheit als Kolonialmacht wie andere Länder, so daß es bei uns weniger Menschen aus anderen Weltregionen gibt. Berlin ist die einzige europäische Hauptstadt, in der die tödliche europäische und deutsche Grenzpolitik in den Straßen spürbar und sichtbar ist. Berlin offen und lebendig zu gestalten ist eine der größten Herausforderungen.“

Das trifft den Nagel auf den Kopf. Wenn Berlin auf qualifizierte Zuwanderer angewiesen ist, folgt daraus logisch, dass es sich Intoleranz und an Ethnien festgemachte Vorurteile nicht leisten kann. Nicht einmal den Eindruck davon. Ein rational handelndes Einwanderungsland bewertet – jenseits des humanitären Bereichs der begrenzten Zuwanderung von Flüchtlingen –  Einwanderungswillige durchaus nach eigennützigen Kriterien wie ihrem Können, ihrem Wissen, ihrem Potential, ihrer Fähigkeit, den Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Aber nicht nach ihrer Herkunft und nicht nach ihrer Religion. Wer in diesem Grundsatz keine moralische oder juristische Selbstverständlichkeit sieht, der sollte ihn zumindest utilitaristisch nachvollziehen können: Wir müssen für Investoren aus arabischen Ländern oder Spitzenjuristen aus der Türkei oder Filmemacher vom Balkan ebenso attraktiv sein wie für indische Ingenieure oder koreanische Chemiker – ganz zu schweigen von der Armada von Altenpflegern und Krankenschwestern aus aller Herren Länder, die wir noch brauchen werden. Ob mit oder ohne Kopftuch, das ist piepe.


Spitzel und Piraten – oder: Investigativer Journalismus in Not

23. September 2009

Ein Grund, sich den kommenden Montag herbeizuwünschen, ja zu -sehnen, ist schlichtweg: Dann ist es vorbei. Es besteht die Chance, dass die Überspanntheiten der öffentlichen Diskussion on- und offline wieder etwas zurückgehen, dass wir Mediennutzer insbesondere davon verschont bleiben, uns jeden Tag über drei bis fünf Pseudo-Skandale erregen zu sollen, die unter den Gesichtspunkten der jeweils gefühlten potentiellen Nützlichkeit für das eigene Wahlergebnis von Spin-Doktoren lanciert und von recherchefaulen Journalisten dankbar aufgenommen und in die Welt gepustet werden. Ich möchte den Mangel an journalistischer Beurteilungskompetenz, über den ich mich im Moment wirklich täglich ärgere, an einem – zufälligen – Beispiel vom heutigen Tage diskutieren. Es ist Zufall, dass dabei Focus Online kritisiert und die CDU Nordrhein-Westfalens (der ich NICHT nahestehe) in gewisser Weise in Schutz genommen wird. Es ließen sich in diesen Tagen nahezu unbegrenzt Beispiele in anderer Konstellation finden.

Mein Beispiel ist die sogenannte Bespitzelungsaffäre in Nordrhein-Westfalen, die seit einigen Tagen einige Gemüter bewegt und aktuell im Aufmacher bei Focus Online thematisiert wird. Bespitzelt haben soll in dieser Angelegenheit die CDU die Spitzenkandidatin der SPD, Hannelore Kraft. Uiuiui, denkt sich der Leser der Überschrift, was läuft denn da? Wanzen im Auto versteckt? Privatdetektiv observiert das Wochenendhaus? Telefon angezapft? So Watergate-, oder zumindest Waterkantgate-mäßig? Das Weiterlesen enttäuscht dann kräftig: Die „Bespitzelung“ liegt darin, dass die CDU Kameraleute zu SPD-Wahlkampfauftritten geschickt hat, die die Reden von Frau Kraft gefilmt haben. In der Hoffnung, ähnlich skandalisierbare Patzer aufs Band zu bekommen, wie sie Herr Rüttgers der SPD mit seiner Verunglimpfung rumänischer Arbeiter geliefert hatte.

Was soll das Filmen einer öffentlich gehaltenen Rede bei einer öffentlichen Wahlkampfveranstaltung mit „Bespitzelung“ zu tun haben? Die Verwunderung beginnt, in Ärger umzuschlagen. Also weiterlesen. Eigentlicher Aufhänger des aktuellen Artikels ist die Enthüllung, dass ein enger Mitarbeiter Rüttgers‘ über dieses Gefilme per E-Mail mit Mitarbeitern der CDU-Parteizentrale kommuniziert hat – aus entsprechenden E-Mails wird ausführlich zitiert. Der vermeintliche Skandal daran: Mißbrauch der amtlichen Stellung bzw. Ressourcen zu Wahlkampfzwecken. Gespannt wartet der Leser jetzt auf die Enthüllung, dass Rüttgers und seine finsteren Kumpane Verwaltungsmitarbeiter zum Filmen geschickt haben, oder die Videoteams aus einer schwarzen Kasse der Staatskanzlei bezahlt, oder sonst irgendetwas zumindest ansatzweise Fischiges verbrochen. Aber: Nichts. Der Skandal soll darin bestehen, dass ein Referent einige auf den Wahlkampf bezogene Mails von seiner dienstlichen E-Mail-Adresse aus geschrieben und auf dieser empfangen haben soll. Wer jemals den Leitungsbereich eines Ministeriums oder einer Staatskanzlei von innen erlebt hat, weiß, wie lächerlich weltfremd eine so überspannte Interpretation des Prinzips der – natürlich gebotenen – Trennung zwischen den Sphären der Parteipolitik und der Administration ist. Würde man sie im Ernst anwenden, dann dürften auch Merkels und Steinmeiers Büroleiter sich nicht mehr an der Koordination der Wahlkampftermine ihrer Chefs beteiligen – macht nichts, denn sie dürften ja ohnehin keine Wahlkampftermine wahrnehmen, schließlich sind sie ja Bundeskanzlerin und Außenminister und werden von unseren Steuergeldern bezahlt… Das gilt natürlich auch für Rüttgers und für Gabriel und für Seehofer und all die anderen, wahlkämpfen dürfen also nur der Westerwelle, Künast/Trittin, Gysi/Lafontaine und die Piraten. Prima.

Während man so seinen Gedanken über die Beurteilungskompetenz eines FOCUS-Landeskorrespondenten nachhängt, fragt eine Stimme im Hinterkopf: „Wo kommt eigentlich das Material her?“ Noch mal nachgeschaut: Es werden mehrere E-Mails im Wortlaut zitiert, und es wird auf die Sekunde genau angegeben, wer welche dieser Mails wann an wen geschrieben und weitergeleitet hat. Woher weiß das der FOCUS? Persönliche E-Mails unterliegen in diesem Land doch dem Datenschutz? Es fehlt, sicher nicht zufällig, jeder Hinweis auf die Quelle.

Da wir davon ausgehen dürfen, dass keiner der Teilnehmer an dieser E-Mail-Kommunikation ein Interesse an ihrer Offenlegung haben konnte, liegt hier allem Anschein nach tatsächlich ein Fall von Bespitzelung vor. Und jeder Journalist, der sowas auf den Tisch bekommt, kann das erkennen – und sich fragen, was er damit macht oder nicht macht. Wie er es einordnet, wenn ihm so etwas wenige Tage vor entscheidenden Wahlen zugespielt wird und von wem. Und ob es wirklich investigativer Journalismus ist, über die Angelegenheit dann unkritisch genau jene Berichterstattung abzuliefern, die der unbekannte Spitzel mit seinem Tun intendiert hat.

Wie gesagt: Leider ist die Kombination aus Recherchefaulheit, fehlender Quellenkritik und Mangel an Einordnungskompetenz oder -wille alles andere als ein Einzelfall. Dies gilt in den sogenannten Qualitätsmedien ebenso wie auf dem Boulevard, offline ebenso wie im Netz. Was mittlerweile so alles als „investigativer Journalismus“ gelabelt wird, spottet leider allzu oft jeder Beschreibung.

Für heute den Vogel abgeschossen hat der Blogger Twitgeridoo: Er lamentiert seitenlang darüber, dass über seine Piratenpartei in einem Fernsehbeitrag etwas Kritisches gesagt wurde, vom Parteienforscher Peter Lösche: „Die Piraten sind eine Ein-Punkt-Partei.“ Er tut dies in Form eines „offenen Briefs“ an Lösche, in dem er öffentlich bekannte Tatsachen wie dessen SPD-Mitgliedschaft oder die Titel seiner letzten Veröffentlichungen „enthüllt“. Und feiert sich dafür: „Das ist investigativer Journalismus im Web 2.0.“ Tolle Wurst. Falls irgendjemand mit dem Gedanken spielt, die Piraten zu wählen: Bitte dieses Traktat in ganzer Länge lesen und sich ein eigenes Urteil bilden über Geisteshaltung und Demokratieverständnis dahinter. Über Rechtschreibung, Zeichensetzung und Grammatik schweigen wir gnädig.

P.S.: Ich höre bereits den Einwand, Twitgeridoos Blog sei keine offizielle Äußerung der Piratenpartei. Stimmt, das wäre ja noch schöner. Aber auch die ist sich nicht zu blöd, auf die kritische Äußerung von Herrn Lösche mit einer „Gegendarstellung“ zu reagieren… souveräne Partizipation an freier, öffentlicher Diskussion sieht anders aus. Für die Piraten scheint zu gelten: Wer kräftig austeilt, muss noch lange nicht einstecken können.

Noch mal kurz Grundkurs Äußerungsrecht: Eine Gegendarstellung richtet sich gegen objektiv falsche Tatsachenbehauptungen. Meinungen sind nicht gegendarstellungsfähig. Gegen die Äußerung: „Die FDP ist eine Ein-Punkt-Partei und fordert immer nur Steuersenkungen“ würde Guido W. niemals eine Gegendarstellung erwirken können, weil das eine von der Meinungsfreiheit gedeckte, wertende Aussage ist. Und solche wertenden Aussagen darf in diesem Land jeder treffen, der das möchte, auch ein Parteienforscher. Und es darf jeder Sender senden, wenn er es relevant findet. Weil dies ein freies Land ist. Und wer für die Meinungsfreiheit ist, maßregelt Kritiker nicht mit Gegendarstellungen. Verstanden, Piraten?

Nachtrag: Süddeutsche, ZEIT, Tagesspiegel, WELT springen auf den FOCUS-Zug, schreiben von „Videoüberwachung“, „Observation“ oder „Beschattung“. Haaallllooo? Geht’s noch? Herr Niggemeier, tun Sie was!


Dumpfes in der ‚Süddeutschen‘

16. September 2009

Heute ist mir bei der Lektüre meiner Lieblingszeitung fast die Teetasse aus der Hand gefallen. Nein, nicht, weil ich mich über einen Kommentar von Heribert Prantl geärgert hätte – das kommt vor und gehört dazu. Sondern weil mir auf Seite Drei unten ein Text ins Auge sprang, wie er dort bei einer Qualitätszeitung schlicht nicht hätte erscheinen dürfen: Eine Restaurantkritik, die in ein ebenso dumpfes wie xenophobes Klagelied über den vermeintlichen Verfall der Spitzengastronomie mündet. Anlass zu dieser merkwürdigen Betrachtung gab offenbar die persönliche Erfahrung des Autors, der eines Abends in einem chinesischen Londoner Sternerestaurant keine britischen Gäste antraf, dafür aber Somalier, Araber und Kaukasier. Solche Gäste bringen nach Ansicht des SZ-Feuilletonchefs und langjährigen USA-Korrespondenten Andrian Kreye „die Hochkultur der Sterneküche in Gefahr“, aus zwei Gründen: Sie verstehen nichts von gutem Essen und sie trinken keinen Wein, was die Kalkulation zunichte macht. Da die Online-Ausgabe diesen Text dezent verschweigt, sei hier etwas ausführlicher zitiert. Ausgangspunkt der Betrachtung ist die Feststellung, dass das Essen enttäuscht – was nach der These des Autors nicht am Koch, sondern am Publikum liegt:

„Nimmt man nun an diesem Abend im Hakkasan [das besprochene Restaurant, MK] mal das Schlimmste an: Die Herren am Tisch links finanzieren somalische Piraten, die jungen Araber verpulvern die Petrodollars ihrer Väter, und die Kaukasier mit den in die Jeans gestopften Seidenpullis verschachern gerade die Ressourcen ihres Heimatlandes auf dem Schwarzmarkt. In allen drei Fällen ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Gäste über kulinarische Vergleichswerte verfügen, ähnlich gering wie bei den Vegas-Touristen aus dem amerikanischen und europäischen Hinterland. Schwerer wiegen an diesem Abend im Hakkasan jedoch die Getränkebestellungen. Die Somalier trinken Tee, die Araber Limonade, die Herren aus dem Kaukasus bestellen Fusel. So rechnet sich das nicht.“ Zusammengefasst zeigt der Abend beim Chinesen, „warum die Umverteilung des weltweiten Wohlstandes die Kultur der Haute Cuisine gefährdet“. Daher: „Kein Wunder, dass die meisten Sternelokale inzwischen in der Provinz zu finden sind. Da verirrt sich das Geldproletariat der Gegenwart nicht hin.“

Hierzu einige Fragen an die Süddeutsche und den Autor:

  1. Taugt eine Restaurantkritik für die berühmte Seite Drei, nur weil man sie mit einer ad hoc erfundenen Stammtisch-Theorie über einen Verfall der kulinarischen Sitten aufbläst? Oder weil sie aus der Feder des Feuilletonchefs stammt?
  2. Ist es eine mit der Ausrichtung der Süddeutschen Zeitung vereinbare Haltung, auf das Ende der Alleinherrrschaft des europäischen Wirtschafts-, Sozial- und Kulturmodells mit derartig dumpfen Reflexen zu reagieren?
  3. Gab es weltweit  jemals mehr Spitzenrestaurants – in den Städten, in der Provinz, in London, Dubai, Peking, Tiflis, Buenos Aires, Kapstadt oder sonstwo – als heute? Wurde jemals mehr guter Wein angebaut – und getrunken?
  4. Sind Abstinenzler Banausen? Gibt es also keine Gourmets, die keinen Alkohol trinken? Alle in dieser Hinsicht strikten Muslime verstehen nichts von gutem Essen? Lassen sich Restaurantkarten unter Anwendung betriebswirtschaftlicher Methoden womöglich auch für ein weniger Wein trinkendes Publikum profitabel kalkulieren?
  5. Hätten die Garnelen in Lilienzwiebelsauce dem Autor vielleicht besser gemundet, wenn er nicht schlecht gelaunt und von misanthropischen Gedanken beseelt allein an seinem Tisch gesessen und am 120-Pfund-Rotwein gemümmelt hätte – sondern stattdessen an der Bar mit den Kaukasiern einen Wodka gekippt?
  6. Könnte es sein, dass die „stoischen Somalier“ seriöse und gebildete Rechtsanwälte waren, die „jungen Araber und ihre Gespielinnen (sic!)“ der Managementnachwuchs eines Weltkonzerns, und die „drei Herren aus dem Kaukasischen“ Austauschprofessoren am King’s College? Und wenn nicht, woher weiß Herr Kreye das?
  7. Könnte die Süddeutsche es nachvollziehen, wenn sich eine nicht unerhebliche Zahl ihrer Leser davon beleidigt fühlt, wenn sie auf Seite Drei solche herabwürdigenden Qualifizierungen lesen muss, die ausschließlich an der nationalen Herkunft von Menschen festgemacht werden?
  8. Oder finden Sie das womöglich lustig?

Qualitätszeitung: Der Ort, wo NICHT alles gedruckt wird, was einem in Bier- oder Weinlaune an Schenkelklopfern so einfallen mag.

Nachtrag: Der Artikel ist inzwischen auch online gefunden. Wer sich also mitärgern möchte, der lese hier.


Als Jungvater in der Morgenpost

8. September 2009

Unter „Jungvater“ stelle ich mir eigentlich jemanden vor, der eher halb so alt ist wie 36… und die Segnungen der Bundes-Familienpolitik streicht Kollege Fahrun vielleicht etwas arg betont heraus. Aber ansonsten kann ich gut damit leben: Elterngeld unterstützt den Babyboom in Pankow