Noch einmal: Thilo Sarrazin und sein Interview in Lettre International

6. Oktober 2009

Kopftuchmädchen. Foto: Resmi 17

Die Debatte um das Lettre-Interview kocht inzwischen kräftig über – und ich werde recht regelmäßig danach gefragt, was ich davon halte. Daher hier nun doch einige ausführlichere Worte, insbesondere zu jenen geäußerten Ansichten, die ich explizit nicht teile. Es sind wenige – den Großteil seines Interviews könnte ich unterschreiben – aber gravierende Differenzen.

Jenseits der Frage, ob man als Bundesbank-Vorstand ein solches Interview geben darf (ja) oder sollte (nein): Ich bin an einigen zentralen Punkten inhaltlich nicht mit Thilo Sarrazin einverstanden, bei denen sich nach meiner Beobachtung sein Denken im Laufe der Zeit radikalisiert hat. Diese Punkte haben einen gemeinsamen Nenner, das zugrunde liegende Menschenbild. Wenn man als Politiker davon ausgeht, dass der einzelne Mensch ohnehin nicht änderbar ist, dann kann man mit Politik aufhören und unter die Fatalisten gehen. Wenn man überzeugt ist, dass aus den Kindern von dummen/bildungsfernen/schlecht integrierten/sozial randständigen oder auch nur gläubig muslimischen Eltern per Definition sowieso keine nützlichen Mitglieder der deutschen Gesellschaft werden können, dann gibt man sie auf.

Ich bin kein Sozialdemokrat, aber Sozialdemokratie (wie auch das für mich prägendere christliche Menschenbild) impliziert die Überzeugung von der Möglichkeit sozialer Mobilität durch Aufklärung, Bildung, Chancengleichheit und Förderung. Empirisch festzustellen, dass dies bei weiten Teilen der Bevölkerung nicht funktioniert, ist das Eine – wer aber daraus apodiktisch die Unmöglichkeit folgert, entwertet das Engagement aller, die daran arbeiten und negiert ihre Erfolge. Wird so etwas herrschende Meinung, kann es zur self-fulfilling prophecy werden: dann verschärft dies (wie seinerzeit bei Innenminister Sarkozy) die Abgrenzungstendenzen gerade junger, männlicher Migranten noch, schürt Wut gegen den Staat und leistet womöglich einen Beitrag zu regelrechten Riots in den entsprechenden Stadtvierteln. Also – wir werden mit denen, die da sind, schon irgendwie arbeiten müssen, vor allem mit den Kindern. Denn das Problem wächst sich ja gerade nicht heraus (da ist Sarrazin widersprüchlich), die benannten Gruppen haben ja tatsächlich hohe Geburtenraten.

Was Sarrazins Auffassung zur prinzipiellen Nichtintegrationsfähigkeit kopftuchtragender Türkinnen angeht und seine ethnische Unterscheidung zwischen guten und schlechten Ausländern: Präambel, Artikel 1 und Artikel 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte oder auch Artikel 3 und 4 des Grundgesetzes halte ich für absolute, nicht hintergehbare Voraussetzungen friedlichen Zusammenlebens. Das hat nichts mit Political Correctness zu tun, das ist einfach Grundlage unserer Zivilisation. „Ich muss niemanden anerkennen, der…“? Doch, das muss er wohl – wenn nicht als Privatmann, dann jedenfalls als Repräsentant dieses Staates:  „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ Kopftuch tragen, kein Deutsch lernen, Hartz IV beziehen verletzt nicht die Rechte anderer und verstößt nicht gegen verfassungsmäßige Ordnung oder Sittengesetz. Vielleicht gegen Deine oder meine oder Thilo Sarrazins Vorstellung von einer vorbildlichen Lebensführung, aber das steht auf einem anderen Blatt.

Wie einem Deutschen in der Türkei ist es auch einem Türken in Deutschland freigestellt, wie weit er sich gesellschaftlich integrieren möchte – so lange er die Gesetze einhält. Integration ist zunächst einmal ein freiwilliger Akt – und muss es in einer offenen Gesellschaft per Definition sein. Es lässt sich also nichts erzwingen – man kann nur mit Angeboten, Anreizen und Sanktionen arbeiten. Für das Zuwanderungsrecht bedeutet das Verbot ethnischer und religiöser Diskriminierung: Ob eine Einwandererin Aufenthaltsrecht, Arbeitserlaubnis und Staatsbürgerschaft erhält, können wir von vielen Dingen abhängig machen: von ihrer Bildung, ihren Sprachkenntnissen, ihrer wirtschaftlichen Selbständigkeit, von mir aus von der Nützlichkeit ihrer spezifischen Ausbildung für unsere Volkswirtschaft. Aber nicht davon, ob sie aus der Türkei kommt oder aus Schweden, ob sie Muslima ist oder Jüdin, ob sie Kopftuch trägt oder nicht. Und das nicht (nur) aus moralischen Gründen, sondern aus wohlverstandenem Eigeninteresse.

Das sind recht grundlegende Differenzen, dennoch bin ich bei seiner Problemanalyse in weiten Teilen bei ihm. Und: Ja, er benennt Mißstände, die man diskutieren und denen man sich stellen muss, wenn der Graben zwischen der Weltsicht der politischen und journalistischen Kaste und den Ansichten der ‚Normalbürger‘ nicht immer tiefer werden soll. Darin ‚Volksverhetzung‘ sehen zu wollen, ist unsäglich.